Warum „positives“ Denken manchmal „negative“ Auswirkungen haben kann

“Reicht positives Denken?“ fragte eine Teilnehmerin meiner Gruppen.

Ich blickte in die Runde – alle, die schon länger dabei waren schüttelten mit dem Kopf.
„Aber positives Denken ist doch eine gute Grundlage?“

Ja und nein.

Ja, denn positives Denken ist wichtig.
Es ist sicherlich besser als negatives Denken.
Du kannst zu einem Ereignis unterschiedliche Bewertungen entwickeln. Du kannst eine Krise als eine Sackgasse, als das Ende, als Schicksal bedingtes Pech sehen. Das ist landläufig mit „negativem Denken“ gemeint. Oder du kannst die gleiche Krise als Herausforderung, ja sogar als Chance betrachten. Du kannst die Scheiße von gestern als den Dünger für dein Morgen wahrnehmen.
Wenn ich in mein Leben zurückblicke so kann ich jetzt und heute sehen, dass meine größten Krisen – Unfälle, Trennungen, Kränkungen – mir den größten Antrieb gegeben haben. Durch sie bin ich zu dem geworden, was ich jetzt bin. Ich habe gelernt, ich habe mich verändert, ich habe für mich gesorgt, ich habe vergeben, ich habe mich erweitert, ich bin vorwärtsgegangen. Diese sogenannten Krisen haben mich geformt in meine Macht, meine Möglichkeiten und meine Mitmenschlichkeit.
In einer Stadt lebte ein weiser Mann. Er hatte einen Nachbarn, der sich stets viel Angst machte. Eines Tages ging der Nachbar zu dem Weisen. Er war ganz außer sich. „Mein Pferd ist davon gelaufen, mein Pferd ist davon gelaufen ….“ klagte er. „Wer weiß, wozu es gut ist“, sprach der Weise und lächelte ihn an.
Am nächsten Tag kam der Nachbar ganz erfreut angelaufen und berichtete strahlend „Meine Stute ist wieder zurück und hat noch einen Hengst mitgebracht….“ „Wer weiß, wozu das gut ist“ antwortete der Weise und lächelte ihn an.
Und schon am nächsten Tag berichtete der Nachbar ihm kreuzunglücklich „Mein Sohn ist auf dem Hengst geritten und ist gefallen – er hat sich das Bein gebrochen…“ „Wer weiß, wozu das gut ist“ bemerkte der Weise und lächelte ihn an.
Doch tags drauf strahlte der Nachbar und berichtete; „Gestern kamen die Soldaten und wollten meinen Sohn in den Krieg mitnehmen. Doch er hatte das Bein gebrochen und sie zogen ohne ihn davon….“ „Wer weiß, wozu das gut ist“, antwortete der Weise und lächelte ihn an.

Nein, positives Denken kann sogar schädlich sein, ja, es kann uns zerstören.
Wichtiger als positives Denken ist eine positive Einstellung zu uns selbst und vor allem zu unseren Gefühlen. Wenn wir wütend in einer Situation sind und wir gehen mit positiven Denken darüber hinweg, dann mißachtet und verdrängt positives Denken unsere Gefühle und unsere Wahrhaftigkeit.
Martha hatte gerade eine berufliche Kränkung erlebt. „Mir geht es ganz gut“, sagte sie tapfer – doch ihr Körper drückte eine andere Sprache aus: Die Stimme war verhalten, die Schultern leicht eingesackt, der Blick nach unten gerichtet. Sie bemühte sich, positiv über die Kränkung zu denken.
Doch innerlich rumorte es in ihr: Sie war verletzt, traurig, ängstlich und wütend – alles scheinbar zur gleichen Zeit. Diese Gefühle erlebte sie als Schwäche. Deshalb kam ihr das positive Denken gerade recht: Es war ja nicht so schlimm. Die Kritik des Kollegen hatte ja mehr mit ihm als mit ihr zu tun, rationalisierte sie wie sie es häufig tat. Sie hatte gelernt über Gefühle drüber weg zu gehen, den Verstand einzuschalten und vernünftig zu sprechen. Massive Magenprobleme waren die Folge.
Wichtig ist also, dass sich unsere Positivität erst einmal auf unsere Gefühle und erst dann auf die Situation bezieht. Gefühle sind ein Ausdruck unseres Körpers. Das Wort Emotion kommt aus dem lateinischen und heißt nach außen bewegen. Ein positiver Umgang wäre, die Emotionen zuzulassen und auszudrücken – dann sind wir authentisch in der Mitte unserer Menschlichkeit und im Einklang .
Also „Ich bin wütend, traurig und voller Angst“, bedeutet die positive Annahme unserer Gefühle. Als nächstes ist es oft wichtig, diesen Gefühlen Raum und einen authentischen Ausdruck zu geben: weinen, schreiben, toben.
Erst wenn die gefühlsmäßige Ladung unseren Körper verlassen hat, können wir beginnen, das Denken einzuschalten: „Aha, da habe ich mich wieder triggern lassen. Aha, die Kränkung fand statt, weil der Kollege gerade schlechte Laune hatte – er hatte vorab ja noch erzählt, dass er Probleme in der Ehe hatte. Aha, jetzt kann ich lernen, Gefühle auszudrücken und eine neue Haltung zu der Situation zu finden….“
Unser Denken ist dann im Einklang mit unseren Gefühlen.
Dann sind wir authentisch, ent-spannt und frei.

Herzlichst